Willkommen im Traumwald
Mythen und Märchen

der Traumspiegel 6

Assin musste bald feststellen, dass die steinernen Stühle noch um einiges unbequemer waren, als sie bereits auf den ersten Blick den Anschein hatten. Er fragte sich, ob auch die Betten aus Stein waren und ob man es dann nicht lieber dankend ablehnen sollte, die Nacht darin zu verbringen.
Es mochten wohl an die drei Duzend Zwerge in die Halle gekommen sein, um sich unter lautstarken Unterhaltungen zu Tisch zu setzten. Nafei saß noch nicht. Sie versuchte wohl ein Gespräch mit einer der Zwerginnen anzufangen, indem sie ihr beim Auftragen der Malzeiten half.
„Für gewöhnlich ist dies mein Platz.“, bemerkte eine schüchterne Stimme hinter ihm. Assin drehte sich um und erblickte Tiefra, die auf den Platz neben ihm wies.
„Nafei würde nichts dagegen haben.“, setzte er voraus. Sie hatte nichts dagegen zu haben. Er war schließlich der König. Er vergaß den Gedanken sofort wieder.
„Natürlich, setzt Euch!“
Mit einem verstohlenen Blick auf ihre Großtante Bagrieda setzte sie sich vorsichtig. Dann senkte sie den Blick auf das bereits auf dem Tisch stehende Essen und ließ die Augen nicht mehr von ihm weichen, als hätte sie Anweisung, es zu bewachen.
„Kann sie zaubern?“ Ihre Stimme war so leise, das bei all dem Lärm um sie herum nur Assin sie hören konnte.
„Wer?“, flüsterte er zurück.
„Die Vaira! Magische Wesen bringen nur Ärger, sagt mein Vater.“
„Du meinst Nafei? Ich weiß nicht, ob sie zaubern kann, aber ich …“ Assin schluckte, als er einen Augenblick darüber nachdachte. „Ich glaube schon.“
Nun sah sie ihn doch an. Verwirrt sah er in ihre grauen Augen.
„Ich meine, sie weiß so viel und sie hat mich gerettet. Ohne Sie wäre meine Suche längst vergeben.“
„Was für eine Suche?“ Ihr naiv fragender Blick brachte ihn gänzlich durcheinander. Schließlich starrte er auf das gebratene Fleisch vor ihm hinab. Wieder durchfuhr ein Beben die Höhle.
„Sind diese Beben normal?“ Assin begann zu schwitzen. Nur ein anderes Thema – mehr wollte er nicht. Nur ein anderes Thema!
„Nein, es begann erst vor einigen Tagen. Es macht mir Angst.“, fügte sie fast lautlos hinzu.
Nun, dies schien auch kein geeignetes Thema zu sein. Ehrfürchtig schaute sie zu Dirkan.
„Zwerge haben keine Angst!“, sagte sie schließlich entschlossen. „Iss jetzt, bevor es kalt wird. Es ist Firlechse. Sie schmeckt köstlich, wenn Mutter sie zubereitet.“
Assin wurde blass. Firlechsen lebten meist in Schlammlöchern, soviel er wusste, und fraßen Schnecken und Würmer. Sie gaben allerdings ein recht weiches und schmiegsames Leder ab. Das man sie allerdings auch essen konnte, war ihm neu. Vorsichtig zerteilte er das gebratene Tier auf seinem Teller, um sich dann ein kleines Stück in den Mund zu schieben. Selbst die reichlichen Gewürze konnten die schlammige Herkunft des Reptils nicht verbergen. Wehmütig dachte er an gebackenen Fasan mit Äpfeln als er den Bissen herunterschluckte und hastig einen Schluck Wein nachtrank.
„Mutter ist eine gute Köchin, nicht war?“
Wieder sah er in das fragende Gesicht des Zwergenmädchens.
„Ja, das ist sie.“, pflichtete er ihr bei. Er fragte sich, wie Firlechse wohl schmeckte, wenn ein anderer sie zubereiten würde. Assin würgte.
Langsam hatten sich alle niedergesetzt und begonnen zu essen. Nafei saß ihm gegenüber und es schien, als würde die Echse ihr – wie allen anderen auch – schmecken.
„Was für eine Suche?“, begann Tiefra von neuem. Verzweifelt blickte er hinüber zu Nafei, die unbeeindruckt weiteraß.
„Dafür bist Du noch zu jung.“, antwortete er krampfhaft.
„Ich bin 62! Alt genug wie ich meine!“
Das Grollen kehrte wieder und dieses Mal war Assin ihm irgendwie dankbar dafür. Es war lauter und bedrohlicher als die Male zuvor.
Die Decke riss vom einen zum anderen Ende hin auf. Große Stücke lösten sich und rasten hinab. Im Saal kam Unruhe auf. Viele waren bereits von ihren Sitzen aufgestanden und verließen die Halle.
„Die Gänge sind stabiler.“ Einer der herabfallenden Steine streifte Tiefra.
Sie drohte von ihrem Platz zu rutschen. Geistesabwesend riss Assin das Mädchen an sich und trug sie den anderen hinterher aus dem großen Saal. Tiefra lag ohnmächtig in seinen Armen, als er den Gang erreichte, in dem schon andere der Zwergenfamilie Schutz gesucht hatten.
Dirkan kam auf ihn zu,
„Das ist Baraks Tochter. Lebt sie?“
„Ich glaube schon.“
Das Beben wurde stärker. Dirkan wand sich wieder den anderen Zwergen zu.
„Schnell zum Ausgang!“ Dann nahm er selbst das Mädchen auf die Arme und lief durch die erbebenden Tunnel. Assin folgte ihnen.
Erst draußen sah er sich nach Nafei um. Sie saß auf einem Stein, als ob nichts um sie herum geschah.
Einer der Zwerge kam auf ihn zu. In seinen Augen zitterten Tränen, die nicht wagten, ihren Weg über die Wangen eines Zwerges zu suchen.
„Du hast meine Tochter gerettet. Hab Dank! Solltest Du jemals die Hilfe der Zwerge brauchen, werden die Pardu ihre Schuld einlösen.“ Er legte einen Ring in Assins Hand. Er war aus Gold und zeigte das Wappen der gekreuzten Hämmer.
Als er wieder aufsah, war Barak bereits mit den anderen verschwunden. Das Erdbeben hatte sich endlich gelegt.
„Wo sind sie?“, wand er sich an Nafei, die als einzige noch dort war.
„Zurück. Sehen, was zerstört worden ist und was sie noch retten können. Ich glaube, es sollte nun auch für uns an der Zeit sein, uns weiter auf die Suche nach dem Spiegel zu begeben. Oder hast Du endlich aufgegeben?“
„Nein. Ich will ihn noch immer – mehr als je zuvor.“ Assin steckte den Ring auf den kleinen Finger seiner linken Hand und sah hoch zum Himmel als er in sich wieder die Stimme vernahm. Komm, Assin komm!
„Lass mich nur noch einen Augenblick das Mondlicht genießen.“
Der Himmel hatte sich aufgeklart. Die Naturgewalten gelegt. Frieden war eingekehrt in die Akronberge. Ein Zustand, der unwirklicher erschien als irgendetwas sonst in diesen Bergen.
 
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Bald würde wieder Vollmond sein. Es konnte nicht mehr lange dauern, bis die Augen der Mondin wieder ganz geöffnet waren und sie über ihre Kinder wachte.
Es war kurz nach Neumond gewesen, als Farina Ryana zu sich gerufen hatte. Seit dem streifte die junge Wolfwe umher – auf der Suche nach jenem Sterblichen, den sie gesehen hatte und der Vaira, die ihn mit sich nahm. Farina hatte auch etwas von einem Spiegel erzählt, auf den sie achten sollte. Doch Ryana hatte ihr kaum zugehört. Sie war immer noch geschwächt von den Wunden, die der Kampf hinterlassen hatte. Doch noch viel schmerzhafter brannte eine andere in ihrem Herzen. Viele ihrer Brüder und Schwestern hatte sie sterben sehen durch die Hände der Sterblichen, deren Führer sie nun suchen und vielleicht noch beschützen sollte. Wahrscheinlich hatte ihn die Vaira eh ins helle Land mitgenommen. Farina war nicht sicher gewesen, ob sie noch in den Akronbergen waren. Ryana war sich nicht einmal sicher, ob sie den Sterblichen überhaupt finden wollte, selbst wenn er noch im dunklen Land war. Der einzig befriedigende Grund wäre wohl sein darauf folgender Tod durch ihre Krallen gewesen. Auch hatte Farina sie geheißen, während dieser Suche ihre Wolfsgestalt, in der er sie gesehen hatte, zu meiden und sich nicht als das zu erkennen zu geben, was sie war. Ryana selbst hasste ihren menschlichen Körper. Viel zu stolz, kraftvoll und geschmeidig wirkte dagegen der Körper eines Wolfes. Viel zu schön glänzte das silbergraue Fell, welches ihre Haut überzog wie Raureif jene morgendliche Wiese, auf der sie Rast gemacht hatte.
Die Wiese umsäumte einen kleinen Weiher. Das Wasser war onyxschwarz und spiegelglatt und weckte in Mefra zwangsläufig die Erinnerung an den Mondtemtel in Siskin. Auch sie hatte Rast gemacht, die Sicheln seitlich in die dafür gearbeiteten Schlaufen gesteckt und sich niedergesetzt, um die wunderschöne Nacht zu genießen.
Jemand näherte sich ihr, ohne bemerkt werden zu wollen. Doch Mefra kannte eben jene lautlosen Schritte nur zu gut. Und ebenso wie im Tempel blieb sie regungslos sitzen.
Langsam bewegte sich Ryana durch das Schilf, hinüber auf die andere Seite. Sie erkannte die Konturen einer Sterblichen. Wut brannte in ihr. Aber dieses Wesen wirkte so seltsam, wie sie so völlig regungslos dasaß. Sie schimmerte im Licht der Mondin. Ryana zögerte, ob sie ihrem Hass nachgeben und die Sterbliche töten oder einfach weiterziehen sollte.
Mefra erhob sich langsam und ihre nachtschwarzen Augen sahen hinüber ins Schilf. Ryana erschrak. Keine normale Sterbliche hätte sie hören können!
„Komm her, Jägerin der Nacht! Fürchte Dich nicht!“ Furcht? Etwas, das Ryana nicht kannte. Mit allem Stolz, der in ihrem Wolfwerherzen schlummerte, trat sie aus dem Schilf auf die Kriegerin zu. Eine zarte Hand strich der Wolfwe durchs Fell.
„Luna hat mich geschickt. Es wird Krieg geben, hat sie gesagt.“
Ryana wich von der Berührung zurück.
„Es ist bereits Krieg! Du dumme kleine Sterbliche.“
Mefra hatte solange sie denken konnte mit den Tieren des Waldes geredet. Aber diese Wölfin hatte geantwortet. In Worten, nicht nur in Gedanken, wie sie es bisher gekannt hatte.
„Wer bist Du, das Du in Worten sprichst?“
„Du sagtest, Luna schickt Dich, und doch weißt Du nicht, was ich bin. Ebenso wenig, wie das der Krieg längst begonnen hatte.“
Mefra setzte sich.
„Luna wählte mich, ihr Heer zu führen, andere zu finden, die für sie kämpfen würden. Sie gab mir diese Rüstung, diese Waffen, doch mehr sagte sie nicht.“
„Eine Sterbliche soll das Heer der Mondin führen? Die Ewigen vereint unter einer Sterblichen?“ Der Hass in Ryanas Augen entbrannte erneut und sie wünschte sich, die Kriegerin gleich getötet zu haben.
„Nein, verzeih. Ein Heer von Sterblichen soll ich finden und in diesen Krieg führen. Du sprachst von den Ewigen. Sag mir, wer bist Du?“
„Mich nennt man Ryana und ich bin eine dieser Ewigen – Wolfwe vom Berg Siran, zu dem ihr kamt, um diesen Krieg zu beginnen. Und nun sollen Sterbliche auf der Seite Lunas kämpfen. Vieles wäre wohl einfacher, würdet ihr einfach gegen Euch selbst kämpfen. Dann müssten nicht unsere Brüder und Schwestern sterben.“
„Ich verstehe nicht, wovon Du sprichst. Was ist denn geschehen?“
„Es ist Krieg, kleine Sterbliche. Doch nicht die Sonnenfolger haben ihn begonnen, sondern ihr. Was daran verstehst Du nicht?“
„Dies alles wusste ich nicht, was mich von der Schuld, zu sein, was ich bin, nicht freispricht. So will ich jetzt erst recht an eurer Seite kämpfen um diese Schuld zu sühnen, von der ich nicht freigesprochen werden will. Ich bin eine Sterbliche, ja. Aber ich weiß, das es viele unter den meinen gibt, die Luna Majai ebenso verehren, wie ich es tue.“
„Wer bist Du, die Du glaubst ein Heer aus Sterblichen zu finden, die mit der Dunkelheit ziehen, Seite an Seite mit den Wolfwern?“
„Mefra von Siskin. Priesterin der Mondin.“ Mefra dachte kurz nach. Eigentlich war sie noch keine geweihte Priesterin. Aber Luna würde es ihr wie immer vergeben.
„Vom Berg Siran kommst Du? Das ist weit von hier, drüben in Garmis. Was suchst Du hier in Iskais?
„Einen Sterblichen und eine Vaira.“
„Vaira?“
Ryana knurrte leise.
„Die Vaira: Es sind Sonnenfolger, Gestaltwandler wie wir. Halb Vogel. Eigentlich verlassen sie das helle Land nicht. Dort nennen sie sie Sonnenvögel – die Sterblichen nennen sie Engel. Dumme Sterbliche!“
Mefras Augen glühten. Sie hatte so viel lesen müssen, doch über all dies wusste sie nichts. Die Neugierde nagte an ihr.
„Gestaltwandler? Erzähl mir mehr. Ich bitte Dich. Ich meine, vielleicht war es Schicksal, das wir und trafen. Vielleicht wollte es die Mondin so.“
„Warum sollte sie das gewollt haben?“ Das letzte, wonach Ryana sich augenblicklich sehnte, war eine Sterbliche an ihrer Seite.
„Ich meine, zusammen sind wir stärker. Verstehst Du nicht? Was Du vorhin sagtest, das Ewige und Sterbliche nicht zusammen kämpfen. Vielleicht sollten wir die ersten sein und viele werden uns folgen. Vielleicht ist das Lunas Plan, wie wir gegen das Heer Helios Karims siegen werden.“
„Mefra – das war doch Dein Name – niemand wird in diesem Krieg siegen. Es wird der letzte Krieg der Traumzeit sein. Am Ende der Zeit werden wir alle sterben.“
„Aber begreif doch, wenn sich die Wolfwer im dunklen Land und die Vaira im hellen Land sich beide mit den Sterblichen verbünden, werden wir einander vielleicht nicht töten und es ist noch nicht aller Zeiten Ende.“
Nun, sicher mochte sie auf gewisse Weise Recht haben, aber Ryana wusste nur zu gut, das die Sterblichen nur all zu oft Kriege gegeneinander führten. Aber einen anderen Nutzen erhoffte sie sich trotzdem von dieser Begegnung. Sie entsann sich wieder der Worte Farinas.
„Weißt Du etwas über den Spiegel der Träume?“
Mefra überlegte kurz. In der Bibliothek des Tempels gab es auch Bücher die von der Entstehung der Welt berichteten und in denen fand auch der fünfte Spiegel Erwähnung fand.
„Ich hab darüber gelesen in einem Buch über den Anfang der Zeit. Es hieß dort, das am Anfang die schlafende Göttin war, die diese Welt erträumte. Und als sie erwachte, begann die Zeit. Sie teilte die Ewigkeit in Licht und Schatten und gab ihnen die Gestalten von Göttern und Geistern. Das Wesen zu ihrer Linken war Luna Majai. Ich erinnere mich nicht mehr an alles. Nur daran, dass die Göttin bestimmte, das die ewigen Wesen über die Welt wachen sollten und sie in die Ewigkeit zurückkehrte – in einen Spiegel, von dem sie sagte, das er einst brechen würde und die Traumzeit beginnt. Der Spiegel zerbrach tatsächlich. In fünf Teile und eines davon ist der Spiegel der Träume. Ich hätte damals gern weiter in dem Buch gelesen, aber es gehörte zu den verbotenen Büchern im Tempel der Mondin. Eine der anderen Priesterinnen kam herein. Ich musste die ganze Nacht hindurch beten.“ Mefra sah hoch zur Mondin. Dies war nun so weit weg für sie und doch holte die Erinnerung sie immer wieder ein.
„Das klingst nach der alten Farina. Manchmal glaube ich, dass sie dabei war – ich meine damals, als die Welt erschaffen wurde. Niemand weiß, wie alt sie wirklich ist und sie weiß mehr als alle Bücher, die die Sterblichen je schreiben konnten, denn sie hat dies alles gesehen. Sie war es auch, die mich schickte, jenen Spiegel zu suchen.“
„Glaubst Du, der Spiegel würde uns helfen?“
Ryana überlegte kurz.
„Ich weiß es nicht. Nicht einmal, wo er sich befindet. Nur das dieser Sterbliche ihn finden wird und es ist an mir, auf ihn zu achten, das kein Unheil mit dem Spiegel der Göttin angerichtet wird. Vielleicht hast Du ja Recht, Priesterin der Mondin. Vielleicht können wir zusammen doch noch etwas tun.“
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