Willkommen im Traumwald
Mythen und Märchen

der Traumspiegel 2

Es war früher Morgen. Das erste Licht drang zögerlich über den Horizont und verdrängte die Nacht. Radan ließ seine Soldaten im Zwielicht zum Appell antreten und ihre Stiefel standen im Morgennebel. Die Männer, fast noch Kinder, waren unruhig und es fiel ihnen schwer ihre Begeisterung zu zügeln. Tag ein, Tag aus warteten sie, dass König Assin in den Krieg ziehen würde – in irgendeinen Krieg! Damit sie endlich ihre Tapferkeit, ihren Heldenmut und ihre Kampfeskraft beweisen könnten. Die Nächte verbrachten sie dann damit, in den Tavernen Magrins ihre Enttäuschung in Honigwein zu ertränken, um dann irgendwann an der Seite einer schönen Magrinerin einzuschlafen.
Die Häuser Magrins waren zum größten Teil aus dem dunklen Schiefer erbaut, der in Massen in den Akronbergen vorkam. Kein sehr stabiles Material, dafür aber billig. Nur wenige konnten sich leisten, ihre Häuser mit Säulen und Balkonen aus schwarzem Onyx zu schmücken. Assin war es unbegreiflich, warum die Einwohner Magrins sogar die Vorhänge ihrer schwarzen Häuser aus schwarzem oder dunkel grünem Stoff fertigten, als ob dieses Land nicht schon dunkel genug war mit den tiefen Wäldern und der endlos scheinenden Winternacht. Garmis war dunkel und schwarz, und deshalb waren auch die Wappen und Schilde, die Flaggen und die Standarten in schwarz und grün gehalten. Den Landesfarben von Garmis. Schwarz fand sich in allen Flaggen des dunklen Landes wieder. Und stolz präsentierten die Garmiser ihre Fahne dem nächtlichen Himmel über dem Appellplatz von Magrin.
„Ich brauche Freiwillige!“ Auch wenn der König ihm den Befehl geben konnte, in den sicheren Tod zu reiten, wollte er doch seinen Soldaten die Wahl lassen, ob sie ihm auch dorthin folgten. Sie wirkten auf Radan alle so jung. Man sah ihnen den Wein der vergangenen Nacht an. Trotz der frühen Stunde hatte er ihr Interesse geweckt.
„Freiwillige?“ „Wird es Krieg geben?“ „Werden wir endlich kämpfen?“ Ein Raunen ging durch die Reihen.
„Ruhe!“ Radan spürte die Aufregung unter seinen Männern. “Ein Krieg wird kommen. Wir werden kämpfen. Wir werden nach Norden ziehen.“
„Und ich selbst werde Euch führen!“ Am Fenster des Schlosses stand Assin und blickte auf den Appellplatz. Für die meisten war es das erste Mal, das sie ihren König zu Gesicht bekamen oder seine Stimme vernahmen.
„Ja, ich werde Euch führen!“ wiederholte er, aber diesmal ging es im Jubel der Soldaten unter. Assin erschauderte beim Gebrüll seiner Soldaten. Es war Musik in seinen Ohren. Alles andere um ihn herum war ihm egal. Der König selbst würde an ihrer Seite reiten – das war es, wovon jeder dieser jungen Soldaten immer geträumt hatte. Assin lächelte zufrieden.
„Bei Sonnenaufgang werden wir aufbrechen!“
Assin ging wieder hinein. Zurück in die Bibliothek.
Er musste die Pergamente einrollen, die ihm den Weg weisen würden. Wie er alles in einer großen Tasche verstaute, dachte er an die alten Heldensagen, die hier in den Büchern niedergeschrieben waren, die sich die Menschen in Akrons Bergen erzählten. Er ließ sich die Rüstung seiner Vorväter anlegen. Auch er war zum Helden geboren, das spürte er mit Gewissheit Ja, auch er würde einer dieser viel besungenen Helden sein!
 
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Seine Rüstung strahlte im fahlen Licht der Morgensonne, als Assin auf sein schwarzes Ross stieg und an der Spitze seines Heeres aus dem Stadttor Magrins hinaus in den kommenden Tag ritt.
Jetzt gab es für ihn kein zurück mehr. Die Stimme rief ihn bereits seit so langer Zeit, doch er hatte sich immer noch zu sehr an das hier und jetzt festgehalten, um ihr folgen zu können. Seit Jahren hatte er sein Schloss nicht mehr verlassen, war nicht mehr durch Magrin geritten oder zur Jagd in die Wäldern. Er hatte all die Zeit gewusst, dass er der Stimme nicht mehr hätte widerstehen können, wenn er erst einmal das Schloss verlassen hätte.
Doch nun, da er das Pferd unter sich spürte, begriff er, dass es nicht die alte Farina war, die er suchen würde. Tief in seinem Inneren war er bereit, loszulassen. Es war an der Zeit, den Spiegel der Träume zu suchen. Doch von alle dem ahnten die Soldaten nichts.
 
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Das Land war weit und König Assin folgte den alten Liedern, den Büchern, seinem Herzen, seinen Träumen und der Stimme, die ihn rief.
Der Gedanke an den Spiegel ließ ihn nicht rasten. Tage und Nächte hindurch ritten sie, ohne ein Lager aufzuschlagen. Drei Tage war es jetzt her, dass sie nach Norden aufgebrochen waren. Die Männer waren erschöpft. Radan, der neben seinem König an der Spitze ritt, war besorgt.
„Herr, wir werden die Pferde verlieren, wenn wir nicht rasten. Die Männer sind völlig entkräftet. Bald geht die Sonne unter. Ich bitte Euch. Lasst uns ein Lager aufschlagen.“
Assin drehte sich zur Seite und sah über seine Schulter hinweg in Radans Gesicht. . Es war, als wäre ihm erst in diesem Moment eingefallen, dass er nicht allein unterwegs war. Überrascht sah er sein Gefolge und erkannt ihren erbärmlichen Zustand. Er war geritten wie im Traum – wie in einem jener Träume, die ihn des Nachts heimsuchten. Jene Träume vor denen er Nacht für Nacht in die Bibliothek floh. Aber jetzt war er wach und er spürte die Last der letzten Tage. Er blickte Radan an und spürte dessen flehenden und besorgten Blick. Er hatte Recht. Nun mochte er Recht haben.
„Wir schlagen ein Nachtlager auf!“ verkündete er missmutig. Die Soldaten fielen mehr von ihren Pferden als das sie abstiegen. Willenlos ließen sie sich in das weiche Moos fallen. Trotzdem gelang es ihnen ihre Kräfte noch einmal zu sammeln, um das königliche Zelt aufzubauen.
Doch ihre Mühe war umsonst. Assin fand in dieser Nacht keine Ruhe, während seine Begleiter wie tot vor seinem Zelt lagen. Es war nicht so, dass er den erquicklichen Schlaf nicht herbeisehnte, aber er fürchtete sich vor den Träumen. Sobald er die Augen schloss, sobald er allein war, sobald es nichts mehr gab, was er tun oder entscheiden musste, hörte er in seinem Kopf die wohlbekannte leise Stimme. Eindringlich und ohne Unterlass flüsterte sie: „Komm zu mir. Der Spiegel erwartet Dich. Ich brauche Dich...“ Nein, er konnte nicht schlafen!
Da an Schlaf nicht zu denken war, schlich Assin sich an den am Boden liegenden matten Gestalten vorbei aus dem Lager. Er lief weiter durchs Unterholz, bis er außer Hör- und Sichtweite des Lagers war. Er wollte allein sein. Die Gegenwart von Menschen war ihm stets zu wider gewesen.
 Als er endlich eine kleine Lichtung erreicht hatte, setzte er sich ins Gras nieder, und holte ein Stück Pergament hervor.
Aber anstatt darin zu lesen – was im kargen Mondlicht schwierig genug gewesen wäre - blickte er geistesabwesend hoch zum Himmel und hinüber in die mächtigen Baumkronen. Mit dem Papier in der Hand wurde ihm auf einmal auf einem der Äste eine kleine weiße Taube gewahr. Sie schien ihn anzusehen – mehr noch. Sie beobachtete ihn! Assin wusste nicht, ob er diese als ein gutes oder schlechtes Omen deuten sollte.
Aber noch ehe er sich entscheiden konnte, erhob sich der Vogel in den nachtschwarzen Himmel und verschwand.
Assin blickte traurig in den Himmel, als auf einmal die Nacht hell erleuchtet war. Er sprang auf und blickte sich suchend um. Unweit entfernt sah er auf einem Baumstumpf ein Mädchen sitzen. Das Licht schien von ihr auszugehen. Sie war hell wie das Auge der Mondin und mindestens ebenso schön. Sanft wie die Dunkelheit und geheimnisvoll wie die Nacht selbst. Ihr beinahe durchscheinend wirkender, fast kindlicher Körper war nur in einen schimmernden weißen Schleier gekleidet. Assin erstarrte.
„Ich weiß, wonach Du suchst, Fremder. Doch ich rate Dir umzukehren, solange Du es noch kannst.“ Ihre Stimme klang wie die süße Melodie einer Harfe. Aber Assin wusste, dass es für ihn längst zu spät war.
„Wer bist Du, das Du weißt, wohin ich gehe?“
„Vielleicht ein Engel, der über Dich wacht, König Assin.“
„Es gibt keine Engel – sie sind nur ein Traum!“
„Bist Du es nicht, der den Spiegel der Träume sucht? Ich bin so wahr, wie der Spiegel wahr ist. Wie es die Träume sind und der Dämon, der über sie wacht.“
„Und diese Dämon werde ich nunmehr bald sein.“
„Wenn Du mich brauchst, werde ich an Deiner Seite sein. Wir werden uns bald wieder sehen.“ Mit leichten Schritten bewegte sie sich fort – hinein in den Wald.
Wer war sie? Was wollte sie? War dies ein Trugbild, geschickt um ihn zu verwirren? Er hatte keine Zeit sich Gedanken zu machen. War es nicht egal, wer dieses Wesen war? Vielleicht war er nur übermüdet? Deutlich und immer deutlicher wurde im aber klar, dass es nicht egal war! Es war sogar von besonderer Wichtigkeit. Er rief laut in die Dunkelheit hinein.
„Warte! Verlass mich nicht!“ Er lief ihr nach in die Dunkelheit, strauchelt; blieb an Ästen hängen und stolperte über Wurzeln. Fiebrig blickte er sich in alle Richtungen um, aber nirgends konnte er auch nur ein winziges Anzeichen des Mädchens mehr erkennen.
„Ich weiß nicht einmal Deinen Namen.“
Doch sie war in der Dunkelheit der Nacht verschwunden – ebenso lautlos, wie sie gekommen war. Nur aus dem sternenklaren Himmel fiel eine schneeweiße Feder vor seinen Füßen auf den Waldboden und die Luft war erfüllt von einer süßen Stimme.
„Nafei“ Es war als ob die Stimme von tausenden und abertausenden Felsen zurückgeworfen worden wäre. Ein sanftes und gleitendes Echo. Und die Luft vibrierte. Die Stimme kam aus allen Richtungen gleichzeitig.
Assin fuhr herum. Sein Blick wanderte durch die Dunkelheit. Er versuchte etwas zu erkennen. Aber das einzige, was er erkannte, war, dass er, der König von Garmis, des nachts allein in Mitten eines riesigen Waldes stand, ein Stück altes Pergament in der Hand und einer irrlichternden Erscheinung hinterher rufend.
Vielleicht war sie nur ein Traum gewesen. Gewiss hatte ihm nur sein Geist einen Streich gespielt. Seit Tagen hatte er weder gegessen noch getrunken – geschweige denn geschlafen. Vorsichtig hob er die Feder vom Boden auf. Sie sei so wahr, wie der Spiegel es ist. Assin wusste seit langem nicht mehr, was wirklich war und was Traum. War nicht seine ganze Existenz nur ein einziger Traum? Das er hier im nächtlichen Wald stand, dass er Magrin verlassen hatte, die letzten Jahre in seinem Schloss? Seine ganze Existenz kam ihm nur noch wie ein endloser absurder Traum vor. Und dieses Mädchen? Ja, vielleicht war sie ein Traum, den der Spiegel ihm geschickt hatte. Doch warum? Warum gerade sie? Assin presste die Feder an sein Herz. Er verdrängte den Gedanken an sie aus seinem Geist und suchte den Weg zurück ins Lager.
Langsam ging er in Richtung der Lagerfeuer, die man entzündet hatte und deren Schein er durch die Nacht hindurch schimmern sah. Bald würde es wieder Morgen werden und wenn er seinen Aufzeichnungen glauben konnte, war der Berg Siran nicht mehr weit entfernt. Die Gedanken an den Spiegel beherrschten weiterhin seine Seele. Aber irgendetwas hatte sich verändert. Als er sich in seinem Zelt niederlegte und die Augen schloss, erschien wie immer der Spiegel vor seinem geistigen Auge. Doch dieses Mal spiegelte er das unschuldige Gesicht seines nächtlichen Engels – Nafei!
 
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